Kreuz und Auferstehung
Dr. Barbara Reinicke
Rede vom 4. März 2005
zur Eröffnung der Ausstellung im Akademiker-Centrum, München
Jörg Länger — Kreuz und Auferstehung
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist gerade ein Jahr her, dass in den deutschen Kinos Mel Gibsons viel umstrittener Film „The Passion of Christ“ anlief. Bereits Wochen im voraus hatte sich in den Medien eine aufgeregte Diskussion darüber entfacht. Der Regisseur hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Leiden Jesu ungeschönt und ungekürzt in seiner ganzen Drastik und Brutalität darzustellen. Auf diese Weise wollte er die Menschen in der Tiefe ihrer Herzen bewegen. Doch so spektakulär es auch war, die Geißelungsszene zehn Minuten lang in aller Grausamkeit auszubreiten, die Idee an sich war nicht so neu. Bereits im Mittelalter sollten die gotischen Darstellungen des von Wunden übersäten, Blut überströmten Gekreuzigten den Betrachter zum aufrichtigen Mit-Leiden anregen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts schuf Matthias Grünewald mit seiner Kreuzigungstafel des Isenheimer-Altares ein Bild, vor dem noch heute die Besucher des Unterlinden-Museums in Colmar vor Ergriffenheit verstummen. Diese Darstellung eines geschundenen, ausgemergelten und von Schmerzen verzerrten Körpers wurde geradezu zum Lehrstück für Generationen von Künstlern. Eine Reihe von Expressionisten, welche in ihren farbexplodierenden und spannungsgeladenen Kompositionen das Leid des Ersten Weltkrieges verarbeiteten, bezog sich explizit auf Grünewalds Meisterwerk. Grausamkeit, Schmerz und Leid werden in der bildenden Kunst häufig durch großes Format, eine gesteigerte Realistik, die Verwendung extremer Farben, eine betont spannungsreiche Komposition sowie nicht selten auch mit einem gewissen Maß an Pathos ausgedrückt.
Nichts von alledem werden sie am heutigen Abend im Münchner Akademiker Centrum vorfinden. Der Berliner Künstler Jörg Länger begegnet uns in seinen hier ausgestellten, vorwiegend grafischen Arbeiten zu dem Thema „Kreuz und Auferstehung“ mit Stille, Reduktion und Ausgewogenheit. Längers Arbeiten spiegeln die auf ein Höchstmaß verdichtete sowohl künstlerische wie auch intellektuelle Auseinandersetzung mit den Grundfragen der menschlichen Existenz wider. Um aber zu einer so radikalen Konzentration von Form und Inhalt zu kommen, muss man erst einen Weg hinter sich gebracht haben.
Jörg Länger, der sich bereits als Schüler intensiv mit Malerei, Zeichnung, Fotografie und Filmkunst auseinandergesetzt hatte, studierte in den 80er Jahren zunächst an der Freien Universität Berlin Religionswissenschaften. Fasziniert von dem „Totalkünstler“ Timm Ulrichs, der sich Mitte der 60er Jahre selbst zum „ersten lebenden Kunstwerk“ erklärt hatte, sowie dem Künstlerpaar „Gilbert & George“, die als „lebende Skulpturen“ in die Kunstgeschichte eingingen, beschäftigte sich Länger in dieser Zeit verstärkt mit Aktionen zur eigenen Körperwahrnehmung, die er gleichzeitig fotografisch dokumentierte.
1988 startete Jörg Länger mit einem seiner umfassendsten Projekte, das bis 1997 (also beinahe 10 Jahre!) andauerte, nämlich „Die Sammlung Länger“. „Die Sammlung Länger“ besteht aus allen „Habseligkeiten“ des Künstlers, kurz: Der Künstler erklärte seinen gesamten persönlichen Besitz zum Kunstobjekt, zu einer „Sammlung“. Aber das geschah nicht einfach so – es handelte sich hierbei weder um einen schnell dahin gesprochenen Scherz noch um ein schriftliches Manifest, in dem man eben mal sein Leben zum Kunstwerk erklärt. Nein, für Jörg Länger begann mit diesem Entschluss ein langwieriges, mühsames und akribisches Arbeiten. So wie in einer Ausstellung ein dreidimensionales Objekt erst durch einen Sockel zum Exponat wird, so wurde der Hausrat des Künstlers erst durch sorgfältige Archivierung und Katalogisierung, durch die Lösung konservatorischer Fragen, durch gezielte Neuerwerbungen sowie schließlich durch die sammlungsgerechte Aufbewahrung, die wissenschaftliche Dokumentation und die öffentliche Präsentation zur echten Kunst-Sammlung. Das Ergebnis ist gleichermaßen intelligent und ästhetisch wie humorvoll. In 216 ausgedienten alten Kisten desselben Formats (38 x 38 x 37 cm), die Jörg Länger von einem Hamburger Kaviar-Import-Unternehmen kostenlos zur Verfügung gestellt wurden, verstaute der Künstler systematisch seine persönlichen Besitztümer. Und das Projekt war ausgeklügelt bis auf die Kiste genau, denn nur mit der genauen Anzahl von 216 Stück lassen diese sich – 6 mal 6 mal 6 – zu einem geschlossenen Würfel stapeln. Dies allein ist schon ein beeindruckendes Kunstwerk: Ein über zwei Meter hoher, strukturierter Holz-Kubus, in dem der komplette Hausstand des Künstlers versteckt ist – „Die Sammlung Länger“. Aber auch die Kombinationsmöglichkeiten scheinen unerschöpflich, in welchen die geöffneten Kisten wie in einem Regal aufeinander geschichtet sind, um uns so private Einblicke in die Sammlung Länger und gleichzeitig auch auf den Menschen Jörg Länger zu gewähren. Als Raum-Installation war die komplette Sammlung 1991 im renommierten Gerhard-Marcks-Haus in Bremen ausgestellt. Ein Katalogbuch umfasst die fotografische Dokumentation des Projektes. Man kann darin viel über Jörg Länger, sein Kunstverständnis, sein Gefühl für Ästhetik und Komposition, sein perfektionistisches Arbeiten, aber auch seinen geistreichen und feinsinnigen Humor lernen!
Nach etwa 15 Jahren intensiven Arbeitens auf den Gebieten der Fotografie, der Installation, der Performance und der Konzept-Kunst kam es 1998 zu einem Bruch im Schaffen Jörg Längers. Nach seinem anfänglichen Interesse für den erweiterten Kunstbegriff machte er sich — nach eigenen Aussagen — nun auf die Suche nach dem verengten, verdichteten Kunstbegriff. Er beschäftigte sich viel mit Kunsttheorie, und Kunstgeschichte und konzentrierte sich zunehmend auf die Malerei und Zeichnung als den authentischsten Formen der unmittelbaren Gefühlsäußerung.
Um zu einem radikalen Neubeginn zu finden, bewegte sich Jörg Länger zu den Anfängen und Wurzeln seiner Kunst zurück. In seiner Kindheit hatte Länger mit Leidenschaft und Akribie vielfigurige Kampfszenen zwischen ganzen Armeen von mit Pfeil und Bogen ausgestatteten Strichmännchen gezeichnet. Im Rückbezug darauf schuf Länger eine Reihe von Schlachtenbildern, wobei er aus Linol Druckplatten von kleinen Soldatenfiguren herstellte und diese nun in seine malerischen Kompositionen hinein druckte. Es begann damit eine neue Werkphase im künstlerischen Schaffensprozess Jörg Längers, die er selbst unter dem Titel „Protagonisten“ zusammenfasst.
In den folgenden Jahren sammelte Jörg Länger rund 100 Figuren aus 23.000 Jahren Kultur- und Kunstgeschichte und machte diese zu den „Protagonisten“ seiner Bilder oder „narrativen Kompositionen“, wie er sie selbst nennt. Fündig wurde er bei Felsmalereien, auf griechischen Vasen, bei russischen Ikonen sowie in den berühmtesten Bildern der europäischen Kunstgeschichte bis hin zu Fotografien zeitgenössischer Aktionskünstler. Das Besondere ist jedoch, dass sich Länger nur ihrer Umrisse bedient, die er exakt übernimmt, dann aber als reine Fläche wiederverwertet. Er isoliert also bekannte Figuren der Geschichte aus ihren historischen Bildzusammenhängen und fügt sie als bloße Schatten ihrer selbst in seine neuen Kompositionen ein. Man kann daher weniger von Zitaten der Kunstgeschichte sprechen, als vielmehr von einem erneuten Aufflackern von Figuren aus längst vergangenen Zeiten. Das große Universalgenie Leonardo da Vinci schrieb einmal: „Die erste Malerei bestand nur aus einer Linie, die den Schatten eines Menschen umzog, den die Sonne auf der Wand verursachte.“ Auch hier scheint Jörg Länger wieder zurück zu den Anfängen zu gehen, er ist derjenige, der die Linie um die Schatten der Figuren zieht, die im Licht der Kunstgeschichte stehen…
Die im Akademiker Centrum München ausgestellten Bilder kommen allesamt aus diesem letzten Schaffensprozess Jörg Längers. Lassen Sie mich Ihnen nun noch am Beispiel der Passion Christi erklären, auf welche Weise Jörg Länger die „Protagonisten“ in seine „narrativen Kompositionen“ einbezieht.
Der Zyklus der Passion Christi besteht aus 14 Blättern und ist das Ergebnis einer mehrjährigen intensiven Auseinandersetzung Jörg Längers mit dem Thema. Man merkt es recht schnell, dass bei diesen Grafiken nichts flüchtig oder zufällig ist, sondern alles aus reiflicher Überlegung entstand. Schon die Auflage des Grafik-Zyklus’ ist kein Zufall, der Künstler spricht von 12 + 1 Serien. Die biblische Bedeutung der Zahl 12 erklärt sich von selbst, die zusätzliche Serie (+1) hat der Künstler für sich persönlich geschaffen.
Die erste Szene zeigt Christus am Ölberg. Die Figur Christi ist aus einer Ölbergszene von Hans Holbein d. Ä. entnommen, die Apostel einer Druckgrafik von Kiki Smith. In seinem Gebet schon weit entrückt, schwebt der Menschensohn schwerelos über dem Ölberg, auf dem die dunklen, nächtlichen Gestalten der Apostel sich ganz in ihren Schlaf zurückgezogen haben. Die hell leuchtende Figur Christi ist diesmal aber nicht mit Farbe auf das Blatt aufgedruckt, sondern aus Wachs geformt. Trotz seiner tiefsten Todesangst kann Jesus am Ölberg dem göttlichen Heilsplan nicht entrinnen. Die unendliche Liebe zwischen Vater und Sohn, macht Christus förmlich zu Wachs in den Händen Gottes.
Auf dem Blatt „Christus vor Kaiphas“ steht Jesus zwei Gelehrtenfiguren der westlichen und östlichen Wissenschaften gegenüber, die aus einer Druckgrafik des 16. Jahrhunderts entnommen sind. In symmetrisch ausgewogener Komposition werden die beiden Gelehrten von einem mächtigen Schrift-Seil niedergedrückt, das sie gleichzeitig unüberwindlich von dem über ihnen schwebenden Sohn Gottes trennt. Der Körper Christi ist wiederum selbst ganz ausgefüllt von Schriftzeichen. Denn in ihm ist das Wort Fleisch geworden…
In der Grafik von der Geißelung Christi führt Jörg Länger vor, mit welch sparsamen Mitteln die ganze Grausamkeit dieses Geschehens angedeutet werden kann. Lediglich einige feine rote Farbspritzer, unter deren leuchtenden Geißelhieben der zarte Schatten des gefesselten Heilands durchscheint, lassen den Betrachter erschaudern.
Und auch für die Kreuztragung braucht der Künstler nicht mehr als den Schatten eines spätmittelalterlichen kreuztragenden Christus’ und zwei Linien, die in ihrer Führung ein riesig überdimensioniertes Kreuz andeuten. Wäre die Figur nicht genau richtig platziert, so müsste man statt einem Kreuz vielmehr die Kreuzung zweier Prachtstraßen vermuten, so aber sind es zwei Linien, die den Heiland unter ihrer Last zusammenbrechen lassen.
Das letzte Blatt von der Auferstehung Christi beinhaltet in seinem Figurenprogramm noch einmal den erlösenden Kreuzestod (Grünewald), die Grablegung (hier in einer Figur Frau Angelicos) und die Auferstehung (Grünewald).
Während in der nach oben strebenden Bewegung, das Aufsteigen aus dem Grab versinnbildlicht zu sein scheint, ist die Figur des Auferstandenen fest im Erdkreis verankert. Mit Christi Tod und Auferstehung hat sich Gott mit der Welt versöhnt. Christus ist nun vollkommen eins mit Gott und der Welt: „Denn siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt:“
Diese wenigen und kurzen Bildbeschreibungen, die sich ja lediglich auf der inhaltlichen Ebene bewegten, geben schon einen Einblick, mit welchem tiefgründigen Verständnis der christlichen Heilsgeschichte und auch mit welchem hohen Grad an intellektueller Reflexion der Künstler Jörg Länger seine Kompositionen inhaltlich aufbaut und erfüllt. Sowohl die Auswahl der Protagonisten als auch die Bezüge, in die sie gesetzt werden, sind stets wohldurchdacht. Dabei fällt sehr angenehm auf, dass jedes Blatt für sich, auch gleich auf der ersten Interpretationsebene verständlich ist. So kann man zum Beispiel das Blatt von der Grablegung sofort verstehen: Christus ist tot, sein Grab ein kleines schwarzes, trostloses Quadrat. Dies erschließt sich jedem Betrachter sofort. Der Künstler selbst dachte dabei an das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, dessen totale Abstraktion im Jahr 1913 das Ende der Kunst symbolisieren sollte.
Neben alledem beeindrucken die Arbeiten Jörg Längers aber ganz besonders auch auf rein gestalterischer Ebene. Wie schon zu Beginn erwähnt, gelingt es Länger in seinem Passions-Zyklus tiefe Symbolik mit absoluter Reduktion der gestalterischen Mittel und zugleich höchster Ausgewogenheit der Bildfläche zu kombinieren. Alle seine Bilder haben die Form des Quadrates. Die Bildhandlung spielt sich fast immer auf der senkrechten Mitte des Bildes ab. Es gibt keine spannungsgeladenen, gegeneinander verlaufenden Schrägen in der Komposition. Alles ist ästhetisch absolut ausgewogen. Dies verlangt allerdings sowohl Mut als auch höchstes Augenmaß und Geschick, damit in keinem der Bilder ein Hauch der Langeweile aufkommt. Man findet selten Künstler, die diesen Mut und dieses Geschick besitzen. Jörg Länger tut es.
© Barbara Reinicke, Kunsthistorikerin, München 2005