Narrative Kompositionen
Andreas Bracher
Rede vom 21. März 2005
zur Eröffnung der Ausstellung in der VIAP-Galerie, Heerlen/Niederlande
Jörg Länger – Narrative Kompositionen
Sehr verehrte Damen und Herren!
Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat ja gesagt, man müsse sich einem Kunstwerk gegenüber verhalten wie einem höhergestellten Menschen: d.h., man müsse warte, bis es sich einem mitteilt. Nun sind wir heute Demokraten und also gibt es keine höhergestellten Menschen mehr oder zumindest akzeptiert man keine mehr als solche. Also höhergestellte Menschen gibt es nicht mehr, aber Kunstwerke gibt es vielleicht schon noch und dazu gehören auch die Bilder Jörg Längers. Also versuche ich Ihnen mitzuteilen, was diese Kunst mir mitteilt, zu was für Gedanken sie mich führt, nachdem ich schon eine „länger“e Zeit damit umgehe, damit lebe (indem ich z.B. ein Bild von ihm bei mir zu Hause hängen habe). Wahrscheinlich muss man mit Länger überhaupt länger umgehen.
Mir scheinen Längers größere Bildern zunächst formal und optisch sehr ungewöhnlich, aber, hat man sich einmal eingesehen, auch sehr interessant und reizvoll: Sie bieten eine Verbindung einer abstrakt-expressiven, großzügigen Malerei mit den kleinteiligen, kindlich oder primitiv wirkenden Figuren und Figurenkonstellationen. Diese Figuren sind ja meistens als Linoldrucke auf die Bilder gekommen, sie sind Längers sogenannte „Protagonisten.“ Die Verbindung zwischen diesen beiden – im 20. Jahrhundert ja miteinander konkurrierenden, gegeneinander kämpfenden – Malweisen scheint mir etwas zu sein, was das ästhetische Gefühl außerordentlich befriedigt, es verlangt in gewissem Sinne danach. Diese beiden Elemente werden von Länger mit einem außerordent-lichen Formgefühl in ein Gleichgewicht, in eine spannungsreiche Balance gesetzt: die abstrakte Malerei bewahrt die figurative davor, in etwas zurückzufallen, was dann wirklich bloß kindlich oder imitativ wäre, sie rückt die Bilder ganz in eine künstlerische Gegenwärtigkeit; und das kindlich-figurative Element bewahrt das abstrakt-expressive vor der leeren, außermenschlichen Prätention, vor dem falschen Groß-Künstlertum.
Die Verbindung dieser zwei Malweisen wirkt zugleich als eine Verbindung zweier Temperamentsarten, die sich gegenseitig im Gleichgewicht halten: ein eher sanguinisch-spielerisches Temperamentselement, das sich (meist) in den Figuren und ihrem Arrangement ausdrückt und ein eher cholerisches, das (manchmal) in den abstrakten Bildzonen enthalten ist. Der Wechsel bzw. die Vermischung dieser beiden Temperamentsarten hat wiederum etwas Befriedigendes, er schafft eine Art Wechsel, der vor Langeweile, und einen Ausgleich, der vor Vereinseitigung schützt.
Die Protagonisten-Bilder Längers haben außerdem etwas zeichenhaftes, nicht ganz Ausdeutbares. Es sind meistens einzelne Elemente, die auf einem Bildraum angeordnet werden, der in wesent-lichen Teilen sonst frei bleibt. Auch die Farbe wird meist einzeln, im Stile eines optischen Zeichens und eines Bedeutungselements eingesetzt, als einzelne Flecken, die bestimmte Farbwerte bekommen, während die Bilder sonst immer auch den Charakter von Zeichnungen beibehalten. Insgesamt gibt das den Bildern etwas, was sie ein bisschen wie eine Art Hieroglyphen, eine nicht mehr verstehbare Schrift erscheinen lässt, — oder auch wie kultische Ritualzeichnungen einer Art modernen Höhlenmalerei, — dazu passen ja auch die vielen Anspielungen auf Religiöses, die in den Protagonisten Längers enthalten sind.
Ich möchte noch einige einzelne Elemente aus diesen Bildern herausgreifen, die sich mir mitzuteilen begonnen haben, Elemente, die Sie nicht in allen, aber doch in vielen der Bilder finden werden.
Auf vielen dieser Bilder finden Sie Linien oder Bänder, die die Bildfläche in zwei Teile aufteilen. Das sind oft senkrechte Linien, manchmal genau in der Mitte der Bildflächen, die manchmal dikker und manchmal dünner sein können; manchmal sind sie kräftig und farbig, manchmal mit einem bloßen, fast unsichtbaren Weiß gemalt; oft ist das eine senkrechte Linie etwa in der Mitte des Bildes. Diese Linien sind wie Scheidewände, die sich innerhalb der Bilder befinden, nur selten von irgendwelchen Bildelementen überwunden; die Vorgänge auf der einen und auf der anderen Seite der Linien sind getrennte, aber zugleich in Beziehung stehende Vorgänge, – manchmal ist diese Beziehung wie eine spiegelbildliche. Diese Linien sind wie Scheidewände zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren – hier aber ebenfalls sichtbaren – Welt, zwischen einer eher menschenhaften und einer eher götterhaften Welt, zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, zwischen einer Welt des Irdisch-Materiellen und einer geistigen.
Dann haben Sie auf vielen Bildern große Kleckse oder Flecken; manchmal geht die Scheidewand zwischen den beiden Welten durch diese Kleckse, oft liegen sie also teilweise in der einen, teilweise in der anderen Welt. Diese Kleckse wirken in den Bildern als eine Art Kraft- oder Energiezent-ren. In den Bildern bilden sie oft Reservoire oder Quellen, die von den Protagonisten angezapft werden bzw. eine Art Ursprungsfelder, aus denen die Protagonisten genährt und unterhalten werden.
Auf manchen Bildern finden Sie krumme, kindlich wirkende Linien, die von den Protagonisten wegführen und entweder im Leeren enden oder bei anderen Bildelementen, — z.B. anderen Protagonisten oder z.B. auch den obigen Flecken. Das wirkt wie Materialisierungen von Beziehungen bzw. Abhängigkeiten, die zwischen den Personen/Protagonisten spielen oder auch zwischen den Protagonisten und einem abstrakt bleibenden Reservoir. D.h. die Beziehungen, die sich eigentlich im Seelischen abspielen, werden hier als sichtbare Fäden oder Stricke gezeichnet, — so wie man so etwas als Kind gezeichnet hat, wenn man ein solches Zusammengehörigkeitsverhältnis zwischen verschiedenen Personen deutlich machen wollte; in gewissem Sinne scheinen das auch Abhängigkeitsverhältnisse zu sein: wie Marionetten hängen manche der Protagonisten an Fäden, die entweder von anderen Protagonisten oder von den gestaltlosen Kraftquellen gezogen werden, in denen sie ihren Ursprung haben…
Und noch eine Eigentümlichkeit der Bilder, die ich erwähnen will: die Wechsel der Sichtperspektive, die in den Bildern anzutreffen sind. Die Bilder kümmern sich gar nicht um irgendwelche perspektivischen Sehgesetze. Das, was in ihnen gegenständlich ist, wird manchmal von vorne, manches von der Seite, manches von oben gesehen, wie es gerade für das je einzelne Element am Brauchbarsten oder Typischsten erscheint. Das alles steht nebeneinander, ohne sich irgendein Problem daraus zu machen. So gibt es Bildelemente, die wie Landschaften wirken, die von weit oben, aus einer Vogelperspektive geschaut sind, und daran und darin tummeln sich dann Protagonisten, die unmittelbar von der Seite geschaut sind. Dieser problemlose, reflexionslose Perspektivwechsel mutet ebenfalls wie einerseits kindlich und andererseits wie in frühen Menschheitskulturen an.
Länger hat eine Serie dieser Bilder ursprünglich einmal „Schlachtenbilder“ genannt, — in vielen von ihnen sind irgendwelche kriegerischen Figuren oder irgendwelche Reminiszenzen oder Anklänge an Kämpfe zu finden. Jeder, der einmal als Kind mit kleinen Plastikfiguren Kämpfe zwischen Indianern und Cowboys oder zwischen Rittern in- und außerhalb einer Burg gespielt hat, wird sich durch Längers Bilder daran erinnert fühlen; und der Künstler selbst erzählt, dass er in diesem Element selbst auf seine Kinderzeit zurückgegriffen hat, als er in einer gewissen künstlerischen Inkubationsphase nach einem angemessenen Ausdrucksmittel gesucht hat.
Dieses Element von Kämpfen und Anklängen an Kriege mögen vielleicht manche befremdlich oder problematisch finden. Mancher wird vielleicht dazu neigen, zu sagen: ja nun, der ist ein Deutscher und ist irgendwie mit der kriegerischen Vergangenheit seines Volkes noch nicht ins Reine gekommen, sie rumort in ihm und kommt eben in seinen Bildern zum Vorschein. Man kann so eine Deutung vielleicht nicht rundweg abzulehnen, aber mir scheint doch, dass die Schlachten und Kriegselemente in diesen Bildern weniger haben, was sich auf historische Ereignisse, auf die Groß-Geschichte der Völker, Systeme und Ideologien bezieht. Es ist nicht die Geschichte – in dem Sinne, wie man das normalerweise heute versteht – die in diesen Bildern rumort.
Sie spielen einerseits auf einer Ebene, die noch darüber hinausgeht, in einem quasi kosmischen Bezirk, wo Engel mit Teufel kämpfen, und andererseits auf einer Ebene, die eine ganz individuelle ist, wo die Bilder und Bildelemente auf jene Sphäre verweisen, in welcher der Mensch in seinem Inneren den Kampf mit sich und den Dämonen, die dort lauern, auszukämpfen hat. Was in den Bildern enthalten ist, was die Bilder einem vermitteln, ist auch, dass diese beiden Ebenen letztlich eine einzige sind, oder zumindest zwei, die auf viele Weisen geheimnisvoll miteinander verbunden sind.
Letztlich drückt sich in Längers Kampfelementen ein bedeutender Umstand aus, der heute oft aus einem sicher gut gemeinten, aber doch falschen, oberflächlichen Harmoniebedürfnis verleugnet oder verdrängt wird: dass das menschliche und kosmische Leben in vielem Kampf ist oder doch Kampf sein sollte oder sein muss. Am allerersten in der Form eines Kampfes um die eigene Menschlichkeit, um die eigene seelische Entwicklung, ein Kampf, der zugleich auch derjenige für die Entwicklung aller anderen ist. Man schreckt heute gerne vor solchen Einsichten zurück, weil man denkt, dass damit irgendein Krieger-Ethos oder sogar irgendeine Kriegsverherrlichung wieder eingeführt werden soll, von der man sich in Europa so mühsam und nur nach unendlichen Schmerzen gerade befreit hat. Aber darum geht es selbstverständlich nicht: es geht eher um die alte, von vielen ausgesprochene, Einsicht, dass Kämpfe, die nicht im Inneren ausgefochten werden, schließlich im Äußeren zum Vorschein kommen werden, dass man in Wirklichkeit die Sphäre der äußeren Kriege nur verlassen und nur überwinden kann, wenn man bereit ist, die Kämpfe im Inneren wirklich zu führen, sich nicht vor ihnen zu drücken. Insofern sind diese Bilder Tableaus vom Kampfplatz der Seele.
Es ist jetzt noch gar nicht geredet worden über jenes Element, das doch das eigentlich Auffallendste, meist Besprochene dieser Bilder ist: die Figuren in ihnen, die von Länger so genannten „Protagonisten“, sind ja nicht irgendwelche Figuren, und sie sind nicht einfach von Länger ad hoc gezeichnete Figuren, sondern sie sind als Umrisse und Abdrücke aus der ganzen Menschheits-Kunstgeschichte genommen. Die ganze Geschichte der Menschheit hallt in diesen fixierten Phantom-artigen Umrissfiguren nach, — von den frühen Höhlenmalereien über griechische Vasenfiguren bis in die europäische Renaissance und die Kunst des 20. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwart, aus allen Epochen findet man solche Phantome, die Länger seinen Bildern mit einverleibt hat. Die Zahl und Bandbreite dieser Protagonisten wächst in Längers Werk immer noch weiter; über 200 verschiedene sind es zur Zeit.
Das befriedigt einerseits im Betrachter auch einen gewissen Spieltrieb, denn Länger setzt diese Phantome so ein, wie man auch als Kind seine Spielfiguren – Ritter, Indianer, Cowboys oder Dinosaurier – eingesetzt hatte: er verfügt ganz frei über sie und probiert jeweils aus, in welchen malerischen Zusammenhang sie passen bzw. welcher malerische Zusammenhang zu ihnen passt. Und andererseits bringen sie in die Bilder auch eine historische und mythologische Tiefendimension, einen Anklang an Bedeutung, einen Bedeutungsakkord, der zu einem durch diese Protagonisten-Phantome herüberweht, ohne dass man genau verstehen würde, was hier nun eigentlich bedeutet wird.
Mir scheint auch bemerkenswert, dass durch die Art, wie diese Protagonisten-Phantome bildlich eingesetzt werden, eigentlich eine Art künstlerischer und spiritueller Menschheitsraum geschaffen ist. Es treten hier Abbilder als Protagonisten miteinander in Beziehung, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte streng voneinander getrennt gehalten wurden: Christliche Engel stoßen auf Steinzeittänzer, moderne Performance-Künstler auf griechische Heroen usw. Längers Bildraum bietet ein Medium, in dem solche Elemente koexistieren und in dem man sozusagen ausprobieren kann, wie sie miteinander in Beziehung treten können. Länger hat seine Protagonisten im wesentlichen aus der Kunstgeschichte des sogenannten Abendlandes, — von den Ägyptern und Griechen bis zur Kunst der Moderne seit dem 20. Jahrhundert – genommen; man könnte sich aber genauso gut vorstellen, dass in diesen Bildern auch Buddhas oder altmexikanische Götter als Protagonisten auftauchen würden. Und es wäre recht interessant zu sehen, wie sich so ein Bud-dha-Protagonist in einem Längerschen Bild neben einem christlichen Engel oder einem Drachentöter-Phantom ausnehmen würde, wie sie miteinander in Beziehung treten würden. – Jedenfalls bieten die Bilder einen spirituell-künstlerischen Menschheitsraum, in dem die Protagonisten-Symbole von ihrer bisherigen Kulturbezogenheit losgelöst und ins Freie gesetzt werden, in ein Freies, wo sie sich – könnte man sagen – ohne die Krücken einer festgefügten Kulturtradition bewähren müssen.
Hier könnte man sogar eine pädagogisch-politische, zeitgenössisch-menschheitliche Bedeutung dieser Kunst sehen: sie verweist in dieser Hinsicht auf einen Zustand, in dem nicht in sich geschlossene, abgeschottete „Kulturen“ oder Religionen oder Symbolsysteme einander feindlich gegenüberstehen, sondern in dem verschiedene spirituelle und existentielle Erfahrungen und Komplexbildungen miteinander in Verbindung treten, wo sie sich gegenseitig abtasten und aneinander messen und sich schließlich gegenseitig zu verstehen versuchen. Und das wäre jener Zustand, in dem auch das, was es heute in dieser Hinsicht an Problemen gibt, z. B. zwischen dem Westen und dem Islam, – in dem das, ich möchte nicht sagen lösbar wäre – denn lösbar im eigent-lichen Sinne sind solche Probleme nie –, aber in dem die Kämpfe, die damit verbunden sind, doch fruchtbar, der Menschheitsentwicklung förderlich sein könnten.
Die Schlachten, die in diesen Bildern geschlagen werden, sind also nicht solche, die das Gegenteil von Frieden bedeuten, sondern solche, die die Voraussetzung für Frieden sind.
Vielleicht darf ich noch zum Schluss hinzufügen, dass dieser Bildraum, diese Malweise von Jörg Länger sich in Entwicklung befindet; dass also auch das, was ich ihnen in einigen Einzelheiten ausgeführt habe, Momentaufnahmen dieser Bildwelt sind, die schrittweise dann auch wieder von anderem abgelöst und überholt werden. In mancher Hinsicht wirkt Längers Protagonisten-Bildwelt wie ein Kosmos, dessen Gesetzmäßigkeiten, dessen Möglichkeiten und dessen Ausdehnung vom Künstler erst nach und nach experimentell, d.h. durch das Ausprobieren und Ent-wickeln neuer Formen, erforscht wird. So haben Sie zum Beispiel in dieser Ausstellung einige neuere Bilder kleinerer Größe, die tatsächlich noch mehr wie Zeichnungen traditionellen Stils wirken. Sie bleiben streng Schwarz-Weiß und in ihnen treten die Protagonisten-Drucke nicht mehr in Konfrontation mit einer abstrakt-expressiven, farbigen Malerei, sondern mit frei gestalteten Tuschefiguren. Die Ausdrucksformen dieser Bilder haben teilweise etwas Bizarres oder Groteskes. Betrachtet man diese Bilder, so kann man vielleicht die Vermutung haben, dass für Länger die Protagonisten auch die Funktion einer Art fixen Abstützpunkts haben, von dem aus er sich auf irgendeine Form einer freien figürlichen Malerei hin bewegt, aber das kann nur die Zukunft lehren …
© Andreas Bracher, Historiker, Hamburg, 2005