Krieger, Engel und Dämonen im Farbraum der Moderne
Sandra Hirsch
Laudatio am 22. August 2003
zur Eröffnung der Ausstellung
Krieger, Engel und Dämonen im Farbraum der Moderne – Narrative Kompositionen von Jörg Länger
im Kunstkabinett LBK, Hamburg
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,
die heutige Ausstellung präsentiert Ihnen einen Ausschnitt des aktuellen Werkes von Jörg Länger. Zu sehen sind Arbeiten in Mischtechnik auf Holz, Leinwand und Papier sowie Stelen aus Glas.
Neben der unverwechselbaren „Bildschrift“ dieses Künstlers wird damit auch ein Eindruck der Vielfältigkeit der künstlerischen Techniken vermittelt, die er immer wieder neu erprobt, erweitert und verbessert. Basierend auf einer fundierten Kunstausbildung entstand so über die Jahre ein Werk, welches von der Installation und Performance über die Photographie bis hin zur Malerei und Assemblage reicht. In jüngster Zeit entdeckte er die Faszination des Ausdrucks von farbigem Glas und widmete sich in der ihm eigenen Präzision auch dieser Technik. In dieser Vielfalt dokumentiert sich nicht nur seine persönliche künstlerische Entwicklung, sondern auch das Spektrum der Möglichkeiten von Kunst in der so genannten Postmoderne.
Aus der intensiven Befassung mit der Kunstgeschichte entwickelte sich bei Jörg Länger ein Werk, das seine Prägnanz aus einer eigenen Formensprache zwischen altem und neuem Stil bezieht, aus den Zwischenräumen von Kenntnis des Überlieferten und Neuschöpfung. Dabei spielt die Bedeutung des Bildnisses und seine Ablösung durch die Abstraktion eine tragende Rolle. Der Weg zwischen diesen beiden Polen der Malerei ist der Schlüssel zum Verständnis der Kunst Jörg Längers — daher zur Erinnerung ein kurzer Blick auf die wichtigsten Stationen:
Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigte sich das Bildnis verortet in einem historisierenden oder mythologischen Bezugsrahmen. Mit dem zu diesem Zeitpunkt einsetzenden Beginn der modernen Malerei wurde das abbildhafte Sujet von der Farbe als Eigenwert abgelöst und es eröffneten sich bis dahin ungeahnte Möglichkeiten der Bildgestaltung: Die Formen lösten sich wie im Impressionismus in Lichtwerte auf, zersetzten sich in simultane Ansichten des Kubismus oder trugen, grell und eckig, expressive Gefühle zur Schau. Dann kam DADA, als Vorläufer der späteren Performances und Installationen, und eine bis dahin ungekannte Lust am Experiment setzte ein. In den letzten Jahrzehnten behauptete die Photographie ihren Rang als eigenes Kunstmetier und mit dem Medium der virtuellen Kunst und Videoinstallationen eröffneten sich noch einmal neue Sichtweisen.
All diese Kunstrichtungen und Stile scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben – und doch verbindet sie ein wesentliches Element: Sie spiegeln die Zeit, in der sie entstanden. Und die jeweils so unterschiedlichen Ziele eines Stils, einer Technik oder einer Schule hatten zumindest einen gemeinsamen Nenner: Weg von der Historie und den Mythen, hin zum Material und zur Form – auch dies eine Konsequenz aus der Zeitgeschichte.
Nach einem Krieg, der zuerst einmal die tragenden Werte der menschlichen Zivilisation zerstört zu haben schien, lag auch die Kunst am Boden. Als sie in den fünfziger und sechziger Jahren nach einer tiefen Zäsur wieder aufstand, konzentrierte man sich auf Farbe, Form und Fläche – aber die Personen und alles Gegenständliche waren im Sinne des Wortes von der Bildfläche verschwunden, das narrative Element im Bild war ein Opfer des Krieges geworden. Für eine Welt, in der ein Ausmaß an Greueltaten und Verbrechen begonnen worden waren, für die man bis heute kaum Worte findet, reichte auch die Sprache der Bildnisse nicht mehr. Was blieb in der Malerei waren Farbe und Leinwand. Letztere konnte alles sein und auch nichts – der Malgrund oder die ausgesparte weiße Fläche; die gestaltete Leerstelle wurde ein Ausdrucksmittel dieser Zeit. Sie blieb der ruhige Kontrast zu den hektisch über die Leinwand laufenden Farbschlieren eines Jackson Pollock, die Stille zum lauten Blau jenes Yves Klein oder das offene Nichts zu den streng begrenzten Farbfeldern eines Piet Mondrian.
Diese hier nur in kurzen Spots erwähnten Stationen der Stilentwicklung wurden zur Geschichte der modernen Kunst, zum großen Inventar, das bis heute für die nachkommenden Künstlergenerationen maßgeblich blieb. Als Künstler muss man sich irgendwann die Frage stellen, was das eigene Werk ist, wohin es will, wo seine Substanz liegt. Genau an dieser Stelle, an der sich Individualität und Originalität, also letztlich die Eigenständigkeit eines Werkes zeigen, setzt die Auseinandersetzung mit den Vorbildern ein.
Warum entscheidet sich ein Künstler für eine bestimmte stilistische Ausdrucksform? Und bleibt es bei der bloßen Adaption eines bereits Dagewesenen oder gelingt im kreativen Akt etwas Eigenes? Werkimmanenz heißt das Zauberwort und bei Jörg Länger findet man es — und besser noch: Es hat nicht nur Immanenz sondern auch Zauber!
Von seinen Bildern geht jene Magie aus, die auch bei derart vielschichtiger Kunst beim Betrachter für den entscheidenden Impuls sorgt: Faszination! Neugierde! Hat man sich erst einmal eine Weile mit ihrer Komplexität vertraut gemacht, sind Welten zu entdecken; die der Form, der Farbe und des Inhalts!
Als Jörg Länger Ende der neunziger Jahre mit seinen Schlachtenbildern an die Öffentlichkeit trat, sorgte er damit für einige Irritationen: Krieger aus allen Zeiten, bewehrt mit Lanzen, mittelalterlichen Helmen und Schwertern, Bogenschützen und Hellebardenträger tummelten sich auf den abstrakten Farbfeldern der Moderne, traten im Nichts der weißen Fläche gegeneinander an und kämpften über einem von Arbeitsspuren durchzogenen Malgrund.
Dies war eindeutig Längers künstlerische Handschrift, und das Thema lag am ausgehenden 20. Jahrhundert anscheinend in der Luft. So schockten zum Beispiel zu dieser Zeit die Installationen der Brüder Chapmann die Kunstszene: Die auf den ersten Blick aus dem Spielwarenladen entlehnten Tableaus zeigten in scheinbar spielerisch pervertierter Nachahmung tausende von Figuren im Miniaturformat, verwickelt in ein einziges Chaos des Tötens, Folterns und aller erdenklichen Grausamkeiten. Es war die Summe der Gewalt im Spielzeugformat — die Versessenheit ins Detail parodiert den gnadenlosen Voyeurismus der Medienwelt und die Nachstellung entlarvt das Groteske.
Die Zeit der reinen Abstraktion ist lange vorbei. Sie war, wie eben schon angesprochen, eine ebenso notwendige wie kreative Phase der Neufindung künstlerischer Mittel, aber sie war auch eine Form der Flucht. Flucht vor dem politischen Statement, Entzug aus der historischen Zwangslage – künstlerischer Freiraum eben. Jetzt ist das anders, die Auseinandersetzung mit den Themen und stilistischen Mitteln der Moderne ist in der Kunst längst im Gange und sie prägt das Werk Jörg Längers. Die kriegerische Konfrontation und ihre Darstellung durchzieht die Kunstgeschichte von der Höhlenmalerei über mittelalterliche Glaubenskriege bis zu den idealisierten Schlachtenbildern des 18. und 19. Jahrhunderts. Und so manifestiert sich auf den Bildern Längers eine Art Zusammenschau dieser Kriegsplätze und ihres Typenarsenals aus unterschiedlichen Epochen der Welt- und Kunstgeschichte. Da bezieht der römische Legionär mit seinem Heer Stellung neben dem christlichen Kreuzritter, luziferische Wesen, beflügelt und mit Dreizack bewaffnet, nehmen den Kampf gegen goldene Gralshüter vor einem himmlischen Abgrund aus Farbe auf und Parzival, der rote Ritter, reitet ähnlich dem Helden eines Comic durch den Bildgrund.
Physiognomien, ihre genaue Identifikation, bleiben dabei nebensächlich, denn diese Figuren sind bis zum Soldaten der Gegenwart von ihrer Funktion her weniger Individuen als Akteure in einem groß inszenierten Spiel um die Macht. Deshalb sind sie auf dem Bildgrund nichts weiter als der flächige Abdruck eines Stempels — sie sind nicht Wesen, sondern Umriss! Sie sind das Heer der Komparsen aus der Weltgeschichte mit dem sich von den großen und kleinen, den äußeren und inneren Schlachten erzählen lässt. Ihr namenloses Potenzial liegt in ihrer umfassenden Gültigkeit für das menschliche Schicksal, für die nie erreichte Abwesenheit der Kämpfe – sei es um Land und Macht, um Besitz oder die Liebe. Gestern wie heute stehen sich erbitterte Gegner gegenüber, gestern wie heute werden Grenzen überschritten und Feindesland in Besitz genommen.
Geändert haben sich die Ausrüstungen und Waffen und in der Malerei die Mittel der Darstellung. Jörg Länger setzt seine Figuren in die malerische Fläche der Moderne. Verschiedene Schichten werden im Bild sichtbar und überlagern sich: Das Figurative mit seinem inhaltlichen, erzählerischen Aspekt steht in einem freien Malgrund, in dem sich der leichte, transparente Farbauftrag neben Ölspuren oder pastosen Farberhebungen findet, zart durchzogen von zeichenhaften Linien und dazwischen die pure Leinwand. Der Prozeß zwischen Bildträger, Farbe und Sujet wird sichtbar gemacht. Die Sphäre zwischen Bewusstem und Unbewusstem findet ihren Raum in den sich überlagernden Schichten.
Besonders prägnant wird dies in den so genannten „Lichtbildern“, in denen die figurativen Ensembles sich fast schon in der Materie Licht aufzulösen scheinen und in einer Art Metamorphose zu einem leuchtenden Schemen verwandeln.
Die Beziehung zwischen dem Material, seiner Bearbeitung und dem Inhalt geht im Werk Jörg Längers eine subtil inszenierte Symbiose ein. So ist es auch kein Zufall und keine rein ästhetische Frage, dass in den neun Passionsbildern ein bestimmtes, die „Auferstehung“, mit Licht hinterlegt wurde. Ein altes, seit Jahrhunderten überliefertes Geschehen wird auf diese Weise in den Kontext der Moderne gestellt: Mit seiner Abstraktion und der elektrischen Beleuchtung scheint es erst einmal jeglichem Heilsgeschehen enthoben und zum Environment profanisiert zu sein.
Doch gerade durch diese Art subtiler Dekonstruktion kann die Auseinandersetzung mit einem Thema, das an einen relativ starren Darstellungsmodus gebunden scheint, erst neu stattfinden. Aus den tradierten Leidensstufen des Kreuzweges werden „Neun Stationen im Quadrat“ – das scheint erst einmal Leiden Christi im praktisch-quadratischen Format der Neuzeit, verkürzt und abstrahiert: Statt biblischer Landschaft viel weiße Fläche und damit der Verzicht auf den illusionierten Raum, statt drapierter Gewandfalten und wallendem Lockenhaar flächige Gestalten, reduziert auf ihren illuminierten Schatten.
Aber so erst können wir wieder neu hinschauen aus unserer Zeit, die nicht mehr die Sprache der alten Bilder spricht. Eine unter einem Kreuz kniende Frau im wallenden Gewand und mit theatralisch himmelwärts verdrehten Augen ist den meisten von uns vermutlich sehr fremd, während der anonyme stille Schatten einer Trauernden uns alle berühren kann.
Letzten Endes wird deutlich, dass es tatsächlich um den Passionszyklus geht. Er hat in diesem Fall seine alte zyklische Version verloren; das potenzierte Quadrat gibt dem Geschehen seine Form und macht es kompatibel für die Gegenwart. Der Inhalt aber hat nichts von seiner Bedeutung eingebüßt.
Die Passionsbilder (die bereits in Kollmar und Lübeck in Kirchen ausgestellt waren) gehören zur jüngsten Werkphase und bilden mit weiteren, so genannten „narrativen Kompositionen“ die Fortentwicklung der Schlachtenbilder. In letzteren sind die Figuren größtenteils noch anonyme Helden eines übergeordneten Kampfgeschehens, nur hier und da erkennt man einen Bischof mit Krummstab oder den heiligen Georg in der emblematischen Pose des Drachentöters. Aus ihrer Präsenz entwickelte sich eine Reihe von Bildkompositionen, in denen konkrete Protagonisten aus unterschiedlichen Phasen der Kunstgeschichte adaptiert und in den Längerschen Bildraum gesetzt wurden. Nur so konnte Leonardo da Vincis „Engel der Verkündigung“ den dämonischen Wesen eines Hieronymus Bosch begegnen, ein Ritter aus der Renaissance scheint durch einen verdichteten Farbraum direkt hinein in die Welt eines frühzeitlichen griechischen Liebespaares zu stürmen, und wer genau hinsieht, kann auf der Einladung eine kopfstehende Figur Rebecca Horns in unmittelbarer Nähe eines van Eyckschen Reiters erkennen.
Das Erkennen oder zumindest Erahnen geschieht im Auge des Betrachters allein durch das Erinnern einer Silhouette – denn die Protagonisten, so weltberühmt sie in einigen Fällen sein mögen, sie bleiben körperlose Schatten, der Abdruck eines nach ihrem Abbild geschaffenen Stempels. Und genau darin liegt, ebenso wie bei den erwähnten Passionsbildern, ihr Geheimnis: Der Umriss, losgelöst aus seinem tradierten Umfeld, legt die scheinbar so altbekannte Figur neu in ihren Eigenheiten frei. Erst dadurch und durch die Einsetzung in einen nur durch Farbe und Fläche bestimmten, ungegenständlichen Bildraum können neue Bezugsfelder erschlossen werden. Die Farbe fungiert dabei einerseits als Eigenwert, dann aber wieder zitiert sie ihren früheren symbolhaften Verweischarakter. Ebenso der Raum: Er ist mal skizzenhaft angedeuteter byzantinischer Sakralraum, mal Leerstelle Leinwand und damit die Aufhebung der räumlichen Illusion.
In diesem Bezugsfeld der Moderne stehen die Protagonisten aus der Weltgeschichte als Chiffre für die Zusammenhänge des großen mit dem kleinsten Geschehen bis in unsere Zeit und sogar darüber hinaus. Denn die Geschichte der Schlachten und der antiken Mythen, der christlichen Passion und der weltlichen Helden weist aus der Vergangenheit ins Heute. In ihrer auf ein Schemen reduzierten Übernahme aus der Tradition und ihrer Einsetzung in einen modernen Bildgrund spiegelt sich die Dialektik von Kontinuität und Bruch, von Welt und Individuum. Die Figuren sind nichts mehr als der Abdruck eines Stempels und dies lässt sich auch auf ihre Wirkung übertragen:
Die hervorgerufene Assoziation eines Abdrucks auf einem Malgrund steht symbolhaft für ihren Abdruck in der Geschichte und letztlich in uns. Denn die Abenteuer eines Ritters Parzival, das Schicksal großer Könige und die apokalyptischen Reiter sind bis heute lebendig. Sie gehören zu unserem zivilisatorischen Urgrund, dem kulturellen Humus der Menschheit. Alle diese Schatten sind Zeugen unserer menschlichen Geschicke, unserer Existenz in der Welt. Und wir entdecken uns in ihnen, setzen unsere Erfahrungen in Relation und reihen uns damit ein in eine Jahrtausende alte Kulturgeschichte.
So fungiert Kunst als Ausdruck unserer Zeit, die Werke Jörg Längers sind ein Teil davon.
© Sandra Hirsch, Hamburg im August 2003