CAPital Investments
2008 - 2010
Cap Art
Prof. Heinz Lohmann, Ausstellungseröffnungsrede „Socky Mountains — CAPital Investments“
Mit den Protagonisten in den Bergen oder Geschichten an der Wand
Einführende Bemerkungen von Prof. Heinz Lohmann zur Eröffnung der Ausstellung
„Socky Mountains — CAPital Investments“
von Jörg Länger in der Galerie Hotes International Fine Art,
Berlin, am 9. November 2010
Was ist selbstverständlicher als eine Socke, eine Mütze oder ein Schuh? Jeder weiß sofort, was das jeweils ist, und wozu es nutzt. Warum also Fragen stellen? Alle, die allerdings die Arbeiten der neuen Werkgruppen von Jörg Länger schon gesehen haben, sind sich nicht mehr im Klaren, ob sie die Funktionsbreite der genannten Dinge bisher ausreichend erfasst haben. Im Gegenteil, sie sind mit Sicherheit neugierig geworden. Und da sind dann doch wieder die Fragen: Was ist das? Was soll das? Diese Irritation nutzt Jörg Länger. Er zwingt uns, genau hinzuschauen. Er tut das humorvoll, augenzwinkernd — ja er umgarnt uns mit seinem Witz. Aber Vorsicht! Was so leicht daherkommt, ist keineswegs oberflächlich. Darin unterscheidet es sich von so manchen Äußerungen, die fünfhundert Meter von hier im politischen Zentrum unseres Landes gemacht werden. Sie erscheinen zunächst inhaltsschwer und erweisen sich bei näherer Betrachtung als äußerst leichtgewichtig. Dabei wäre gerade jetzt, in der heutigen Zeit, Substanz so sehr von Nöten. Befinden wir uns doch in einem tief greifenden Umbruch von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft! Und Wandel verunsichert Menschen zunächst immer. Ihnen fehlt in solchen Situationen leicht die Orientierung. Da ist es wichtig, sich rückzubesinnen. Wir können und wir müssen aus der Vergangenheit lernen, und zwar in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart.
Diese dialektische Vorgehensweise beschäftigt Jörg Länger sein ganzes bewusstes Leben lang. Bereits mit vier Jahren hat er erste Schlachtenbilder auf kleinformatige Papiere gekritzelt — meist mit zwei verschiedenfarbigen Stiften, je eine Farbe für „Gut“ und eine für „Böse“. Das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen, das Ringen um das Grundsätzliche im Alltäglichen, das Herausarbeiten existenzieller Werte, das alles ist immer wiederkehrendes Geschehen in den Arbeiten von Jörg Länger. Dabei hat er ganz verschiedenartige Methoden und Techniken eingesetzt: Fotografie, Super-8- und 16-mm-Film, Skulpturen, Installationen, Zeichnungen, Texte, Malerei, sogar Glasarbeiten. Und er hat sich den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys auf seine Weise angeeignet. Die Längersche „Social-Sculpture-Art“ enthält Handlungen in einem sozialen Kontext, die ohnehin zu tun wären. Alltagsgeschehen wird bei ihm zum „So-Wie-So-Handeln“. Dazu zählt auch seine Ausprägung der „Minimal-Art“, eine sowieso zu schreibende Rechnung zum Kunstwerk zu erklären, zu rahmen und zu verkaufen sowie seine Form der „Mail-Art“: „Postverkehr — hin und her“. Die Belastbarkeit der Post wurde sechs Jahre lang dadurch getestet, dass Postkarten immer wieder hin und her geschickt wurden und dabei wurde auch nicht vor Stempelmaschinenminen zurückgeschreckt.
Die Vielseitigkeit des Künstlers ist enorm, wobei Jörg Länger im Kern ein Sammler ist. So hat er immer wieder mit Alltagsgegenständen gearbeitet. Im Zentrum standen dabei Bewahrungs- und Archivierungsfragen. Und die haben eine Entdeckung zu Tage gebracht, die ihn von Stund an begleiteten: quadratische Kaviarkisten. Keine Seite ist länger! Länger? bleibt, wie Länger bemerkt, dem Künstler vorbehalten. Da die Kistendeckel für die Regalwände der Sammlung Länger nicht benötigt wurden, bilden sie bis heute vielfach den Maltuchhintergrund — so auch in dieser Ausstellung, in der drei neue Werkgruppen zu sehen sind. Es handelt sich um die „paraSCHUHtisten“, die „Socky Mountains“ und die „CAPital Investments“. Allein die Titel zeugen von der Sprachakrobatik Längers. Auch spielt er mit der Doppeldeutigkeit der Wortkombinationen. Und immer wieder tauchen in seinen Werken die Protagonisten auf, jene Helden, Pioniere und Vorreiter — oder besser noch, Vorkämpfer. Es handelt sich um Personen aus allen Geschichts- und Kunstepochen. Diese aus Linoleum geschnittenen und im Handdruck in Malereien und Zeichnungen eingefügten Figuren sind zum Markenzeichen des Künstlers geworden. Erst sie ermöglichen ihm seine „Narrativen Kompositionen“, also seine im Erzählstil gestalteten Kunstwerke.
Jörg Längers Arbeiten sind in den letzten Jahren häufig in Kirchen gezeigt worden. Das hängt sicherlich mit seiner Sensibilität und Verletzlichkeit einerseits und seiner Klarheit und Ernsthaftigkeit andererseits zusammen. Der Schluss, Länger sei ein klerikaler Künstler, wäre ein Missverständnis. Seine Gedankenwelten sind vielmehr metaphysisch geprägt. Er beschäftigt sich immer wieder mit der Gesamtheit des Seins, also mit philosophischen Grundfragen, aber eben jenseits des Erfahrbaren im Bereich des Spekulativen. Die hier gezeigten Arbeiten bleiben deshalb auch an vielen Stellen mystisch. Sie erlauben uns, eigene Interpretationen zu suchen und, wenn es gut geht, auch zu finden. Mit den „CAPital Investments“ gibt uns Jörg Länger ein Hilfsmittel für unsere Deutungsbemühungen mit auf den Weg. Er verwendet nämlich in dieser Werkreihe von seiner Mutter gefertigte Mützen. Er hat seine Koproduzentin extra mit einem Akquisitionsbrief angeworben. Entstanden ist eine Gruppe von Arbeiten, die den Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes Form geben, die ansonsten im gesellschaftlichen Leben unserer Tage weitgehend verloren gegangen ist. Tradierte Autoritäten sind längst allerorten in Frage gestellt. Überkommene Institutionen haben ihre Bedeutung eingebüßt — vorneweg der Staat und die Parteien, aber jetzt auch die Gewerkschaften und sogar die Kirchen.
Menschen suchen nach Halt, allerdings nicht nach Formierung sondern nach Begründung. Die Politik bietet viel zu oft nur kurzfristige „Lösungen“. Wenn Opportunität über Programmatik siegt, entsteht keine Verlässlichkeit. Beschlüsse werden häufig schneller korrigiert als sie verkündet werden können. Wenn der Staat mit seinen Organen sich nicht an die eigenen Regeln hält, warum sollen das dann die Bürger tun? Wir können jeden Abend in den Fernsehnachrichten sehen, wohin das führt. Wir brauchen dringend einen neuen Gesellschaftskonsens. Der ist ohne offenen Diskurs nicht möglich. Hilfreich sind dabei Menschen, die anstoßen — Künstler wie Jörg Länger. Kunst kann Politik nicht ersetzen, aber Kunst kann Katalysator sein. Offene Diskurse benötigen offene Räume der Begegnung. Heute wird hier in Berlin so ein Ort eröffnet. Dem Galeristen Volker Hotes sei deshalb, in unser aller ureigenstem Interesse, Erfolg gewünscht mit dieser und den weiteren Ausstellungen. Machen Sie sich heute Abend auf den Weg, die Arbeiten von Jörg Länger für sich zu ergründen, ruhig auch im Dialog mit ihrem Nachbarn! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen spannende Begegnungen und zudem viele neue Erkenntnisse!