Das kleine Format
Dr. Sabine Maria Hannesen
Rede vom 9. März 2008 zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie am Klostersee, Lehnin
Das kleine Format – Malerei und Zeichnung von Jörg Länger
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie ganz herzlich und freue mich, dass Sie heute Nachmittag zu dieser Ausstellungs-Eröffnung nach Lehnin gekommen sind.
Jörg Länger geht mit seinen feinen, kleinformatigen — und auf den ersten Blick so stillen — Arbeiten einen ganz eigenen Darstellungsweg, der für den Betrachter trotzdem ausdrucksstark und eindringlich ist. Die uralten Fragen und Verstrickungen und Sehnsüchte der Menschen nach dem Sinn des Lebens, nach Liebe, Leid und Macht sind in der Kunstgeschichte immer wieder auf vielfältige Weise gestaltet worden. Jörg Länger verwendet bei seiner Werkgestaltung scheinbar ästhetische Formen, die sich jedoch bei genauerem Hinsehen als sehr vielfältig und hintergründig erweisen.
Dieses Ausloten der Tiefen kommt nicht von ungefähr, sondern fußt auf einem breiten Fundament, das der Künstler in seinem Studium der Geistes- und Religionswissenschaften an der Freien Universität Berlin und an der Freien Kunst-Studienstätte Ottersberg erworben hat. Jörg Länger arbeitete in verschiedenen Bereichen als Konzept- und Performance-Künstler und er beschäftigte sich mit Fotografie, Collagen und Rauminstallationen.
Während eines Druckgrafik-Seminars Ende der 80er Jahre schneidet der Künstler Figuren aus Linoleum aus, um sie im Handdruck in seine Malereien und Zeichnungen einzufügen. Ab 2001 beginnt Länger mit seinen so genannten ‚narrativen Kompositionen’, die er bis heute fortsetzt und weiter entwickelt. „Von nun an gibt Länger Linolschnitte nach eigenen Entwürfen auf. Die Handlungsträger – oder ‚Protagonisten’ – werden von dem Künstler fast archäologisch aus der bis zur Gegenwart reichenden Kunstgeschichte zusammengetragen, mit der Farbe und der Struktur des Linoldruckes neu belebt und in die Umfelder zeitgenössischer Zeichnung und Malerei eingefügt.“ (Zitat: Jörg Länger, >Künstlerische Wegmarken<, 2005/06).
Auf dieser Grundlage sind auch die hier ausgestellten Werke entstanden.
Da wir uns in der Passionszeit befinden, möchte ich Ihnen zuerst einige Arbeiten vorstellen, die diesem Themenkomplex angehören. Jörg Länger zeigt hier nur eine Auswahl von Blättern, die im Rahmen einer Einzelausstellung — genau vor zwei Jahren — in der St. Matthäus Kirche in Berlin am Kulturforum, von dem Kunstbeauftragten der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, veranstaltet wurde und zu der auch ein Katalog erschienen ist.
Jörg Längers Arbeiten zur Passion zeichnen sich durch Sensibilität, Reduktion und Konzentration auf das Wesentlich aus. Trotz sparsamster formaler Mittel gelingt es dem Künstler immer wieder für den Betrachter verschiedene Raumtiefen und Bewegungen zu evozieren. Die sehr zurückhaltend eingesetzten Farben sind stets inhaltsbezogen. Auf den ersten Blick vermittelt die zumeist axiale Komposition und die ästhetische Gestaltung ein ruhiges Erscheinungsbild, das jedoch bei genauerem Hinsehen aufgebrochen und hinterfragt wird. Durch den Scherenschnittcharakter seiner Linoldrucke und das Fehlen jeglicher Binnenzeichnung entfaltet sich beim Betrachter ein Höchstmaß an eigener Phantasie. Länger versteht es in seiner minimalistischen Technik die Vorlagen — aus berühmten Gemälden der Kunstgeschichte und der Gegenwartskunst — durch einen veränderten Kontext, sowie durch zeichnerische und malerische Bearbeitungen mit neuen Facetten zu bereichern und zu weiteren Reflexionen anzuregen. Die von mir angebotenen Bildinterpretationen bieten deshalb nur eine Möglichkeit — aus einem Spektrum vieler denkbarer Deutungen — sich seinen Werken zu nähern.
Für sein Blatt „Jesus Christus – Auferstehung“ beschränkt sich Jörg Länger auf nur zwei Protagonisten, die ganz unterschiedlichen Epochen entnommen sind: Der Figur eines mittelalterlichen Gekreuzigten und einer Zeichnung von Giacometti aus dem 20. Jahrhundert. In dieser axialen Komposition druckte Länger die Giacometti-Linolschnitt-Figur auf die Schultern des anderen und verbindet beide mit mehreren zarten Linien, die dadurch ihrerseits eine Kreuzform bilden. Unwillkürlich assoziiert man bei der dünn gliedrigen oberen Figur die ‚Seele’ des Verstorbenen, die – wie in einem letzten Atemhauch einer verlöschenden Kerze – dem Körper entweicht und nach oben aufsteigt.
Mit der „Auferstehung“ eng verknüpft ist auch das Blatt „Jesus Christus – Licht der Erde“. Diesmal sehen wir drei Figuren, die erneut in der Bildmitte übereinander angeordnet sind. In hellem goldfarbenen Druck erscheint die Silhouette des Auferstandenen, der mit erhobenen Händen seine Wundmale präsentiert. Er thront in der Mitte einer – nur mit einer einzigen Halbkreis-Linie angedeuteten – Erdkugel. Auf ihrem oberen Rand ist erneut die Figur eines Gekreuzigten mit weit auseinander gebreiteten Armen in dunklerer Farbe postiert. Aus ihr heraus enthebt sich eine nebelweiße Geist-Figur, die nach oben entschwebt. Dieses Bild vereint im Grunde die Darstellung einer Kreuzigung und einer Auferstehung.
Bei den nächsten beiden Blättern „Jesus Christus – Sieger“ und „Jesus Christus – Mitte“ finden wir einen konzentrischen Bildaufbau, der auch auf die Bildtitel Bezug nimmt. Christus ist die formale und inhaltliche Zentral-Figur, um die sich – im wahrsten Sinne des Wortes – alles dreht. Wie mit Zentrifugal-Kräften werden die Dämonen an den Außenrand ins Universum geschleudert oder spiral- und schlangenförmig von der Christus-Figur mit der Dornenkrone in Bann gehalten. Das ‚Böse’ kann Gott nichts anhaben – es muss ihm fliehen oder sich ihm beugen.
Ich komme jetzt zu den eher malerischen Arbeiten des Künstlers, die sich profanen Inhalten widmen.
Als Überleitung möchte ich auf das Bild „Grab“ verweisen. In summarischem Umriss erkennt man eine ausgestreckte, geschlossene Figur, die allein durch die angedeutete Krone auf ihrem Kopf, als König identifiziert werden kann. Diese archetypische Königs-Figur ist aus einer breiten dunklen Farbbahn herausgefallen. Ihr Fallen wird begleitet von vielen tränenreich herunter laufenden Farbspuren – so, als würde der Tod dieses Königs von der Erde beweint werden. Farblich sind die weiße Leerstelle und die Schachfigur-artige dunkle Gestalt wie ‚Positiv und Negativ’ aufeinander bezogen. Im Geiste setzt der Betrachter – wie bei einem Puzzle – die Figur des Königs wieder in der oberen Farbbahn an ihren Platz ein.
Die Figur des Königs kommt in mehreren Arbeiten Jörg Längers vor. Für die Einladungskarte zu dieser Ausstellung wurde ebenfalls eine Königs-Darstellung ausgewählt. Es handelt sich um den gleichen ‚Protagonisten’ wie aus dem „Grab“-Bild. Auch dieses Werk zeigt wieder sehr deutlich Jörg Längers Intentionen, indem er nämlich — so weit irgend möglich – jede ‚Deutlichkeit’ vermeidet und sich auf bloße ‚Andeutungen’ beschränkt! Wir sehen ein Landschafts- und Figuren-Bild, bei dem wir nicht einmal genau erkennen können, ob es sich um eine Person oder um zwei handelt. Der König ist auf einem Hügel – oder vielleicht auch auf einem Felsen(?) – gelagert und wirft mit seiner schwarzen Gestalt einen dermaßen intensiven ‚Schatten’(?) auf den Untergrund, dass man diesen ‚Schattenwurf’ auch als zweite Person deuten könnte. Beide oder beides verschmilzt in der Dunkelheit miteinander. Der rein linear wiedergegebene Baum scheint ebenfalls einer Zwitter- oder Zwillingsart anzugehören: wie das Blatt eines Ginkos ist er eins und gleichzeitig in zwei Baumkronen getrennt. Vielleicht ein Verweis auf die überall waltende Dualität bei Mensch und Natur; auf Spiegelbildlichkeiten bei einem selbst und anderen.
Auch in der „Kombattanten“-Serie – in den Kampfgesprächen – stehen sich zwei in scharfem Profil gegenüber. Hier jedoch klar von einander getrennt und nicht durch eine partielle formale Verschmelzung harmonisiert. Auf diesen Blättern geht es deutlich um Kampf und Streit. Zwei Personen schreien sich heftig an und zeigen sich gegenseitig die Zähne!
„Engelkampf“ heißt eine andere Serie. Mich beeindruckt besonders ein Blatt auf dem wir links als ‚Protagonisten’ die Engelsfigur aus einem Verkündigungs-Gemälde von Francesco di Giorgio Martini von 1470 sehen, das sich in Siena in der Pinakothek befindet. In einer rot-violetten ‚Farb-Wolke’ schwebt rechts daneben eine Figur aus einer Arbeit des Amerikaners Bill Viola. Diesen Engel trennen Welten von den süßlichen kleinen Kitsch-Ausgaben, die jeder Souvenirladen anbietet. Dies hier ist ein machtvoll dämonischer Vertreter nicht nur himmlischer Sphären. Er scheint zu bestimmen, wie es der Figur im Innern der Farbfläche ergeht, die eher ein Spielball seiner Kräfte ist und von gewaltsamen Regungen und Emotionen hoch geschleudert wird.
In der Serie „Paar“ finden wir Darstellungen eines lustvollen ‚Dialoges’ zwischen den Geschlechtern. Zum Teil in kräftige Farbigkeit getaucht – zum Teil aber auch nur in Grau-weiß gemalt und gedruckt – versinkt das Liebespaar auf dem einen Blatt in glühende Rottöne. Die Farbwerte Kardinalrot und Signalrot beißen sich eigentlich, aber in diesem Fall unterstreichen sie die Energien, die Mann und Frau durch ihre Liebe miteinander austauschen und freisetzen und im oberen Teil zu einem satten Orange verschmelzen. Auch auf einigen anderen Bildern dieser Serie befindet sich das Liebespaar wie in einem Kokon. Die Vorlagen stammen aus der rotfigurigen griechischen Vasenmalerei. Man erkennt z.B. wie eine junge Mänade gerade einen Satyr besteigt (mal nicht umgekehrt!), der sie in freudiger Erwartung empfängt.
Auf einem Bild beobachten wir die beiden wieder bei ihrem Liebesspiel, während eine Art Haube über ihnen angehoben wird, die trotzdem noch durch Spindelfäden mit dem unteren Teil verbunden bleibt. Bei dieser Komposition hat man den Eindruck, man würde zufällig einen unerlaubten Blick auf das lustvolle Geschehen erhaschen können, das sonst unter dieser ‚Glocke’ verborgen geblieben wäre. Wenn man dann noch weiß, dass diese ‚Glockenhaube’ eigentlich eine Protagonistin ist – nämlich die junge Infantin aus einem Velázquez-Gemälde mit ihrem großen, breiten Reifrock – dann erhöht sich noch einmal mehr der erotische Reiz des Ganzen.
Kehren wir zum Schluss noch einmal zu anderen Arten der Auseinandersetzung und Grenzerfahrungen zurück. Ein Blatt trägt den Titel „Fall“ und zeigt einen Protagonisten, wie er rücklings in eine nicht näher definierte Tiefe stürzt. Hilfesuchend hat er beide Arme ausgestreckt, aber sein Fall ist nicht mehr aufzuhalten. Durch feine Bleistift-Linien erkennen wir eine zarte Landschafts-Angabe, die für den Betrachter ausreicht, ihm die nötige illusionistische Dreidimensionalität zu vermitteln.
Bei den beiden Blättern „Gedankenschwanger“ und „Im Schreiten erhoben“ verwendet der Künstler als Protagonisten wieder eine Giacometti-Vorlage. Geradezu in wörtlich-bildlicher Umsetzung gewährt er uns einen Einblick in die momentane Gedankenwelt der beiden Schreitenden: Die Figur in der großen, grauen ‚Gedankenwolke’ lässt sich nicht eindeutig identifizieren. Sie erinnert — in ihrer Einbettung in eine Kugelform — an Darstellungen des ‚Homunkulus’.
Auf dem anderen Blatt erhebt sich hinter der schreitenden Figur ein gigantisches, gelbes ‚Über-Ich’, das die zarte Figur mit seinem malerischen Volumen zu erdrücken droht.
Aus der Serie „Narrative Kompositionen“ stammt ein ungewöhnlich farbiges Bild mit dem ich meine Einführungsrede beschließen möchte. Auf den ersten Blick meint man eine rein abstrakte Farb-Feld-Malerei vor sich zu haben. Zwei kräftig rote Farbbahnen begrenzen links und rechts das Bild und betonen die Vertikale. In der Mitte öffnet sich ein schmaler weißer Spalt, der von zwei blau-grünen ‚Vorhang’ artigen Schals eingerahmt wird, zwischen denen — wie auf einer Bühne – eine gelbe Figur erscheint. Die Abbildung der Figuren-Vorlage basiert auf einer Performance, die der Künstler einmal selbst veranstaltet hat. Die Figur steht mit gesenktem Kopf und angezogenem rechten Knie etwas im Hintergrund. Die Darstellung vermittelt Anspannung und Versunkenheit zugleich. Einen ‚Wiederschein’ der Person erahnen wir in der signalroten, aufrechten Gestalt rechts. Vielleicht handelt es sich um einen wortlosen, stillen Dialog zwischen beiden. Um ein geistiges Ringen und Durchdringen seelischer Kräfte – einerseits getrennt durch die Vorhang-Farbbahn in blau-violett, die andererseits aber auch wieder Membran-Charakter hat und eine innere Verbundenheit und Übergang ermöglicht.
Ich habe der Ausstellung insgeheim den Titel Grenzerfahrungen – Grenzüberschreitungen gegeben. Angefangen bei den religiösen Darstellungen von Tod und Auferstehung; über die Konfrontationen in den Serien der Kampfgespräche und Engelkämpfe; über die Grenzüberwindung Liebender in der „Paar“-Serie; bis hin zu den Grenzerfahrungen innerhalb der eigenen Seele und deren zum Teil dämonischem Doppelbild.
Es fasziniert mich, wie es Jörg Länger in seinen Arbeiten gelingt — mit auf ein Minimum reduzierten bildlichen Angaben – für den Betrachter trotzdem ganze Lebens- und Vorstellungswelten entstehen zu lassen, die immer wieder zu neuen Interpretationen anregen. „Das kleine Format“ entpuppt sich als große geistige Dimension!
Ich wünsche der Ausstellung viel Erfolg und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
© Dr. Sabine Maria Hannesen, Berlin, 2008