Im Kreuz ist Leben.
Thomas Menges
Hinweise zu Jörg Längers Passionszyklus als fester Bestandteil in der Michaelskapelle zu Limburg. Einweihung 2009.
Im Kreuz ist Leben.
Wer sich der Westfassade des Limburger Domes St. Georg und Nikolaus nähert, entdeckt linker Hand am Rande des Domfelsen die ehemalige Kernerkapelle St. Michael. Das Untergeschoss des steinsichtigen Massivbaus aus der Zeit um 1250 diente ehemals als Beinhaus, das Obergeschoss als Totenkapelle. In diesem schlichten, frisch sanierten Raum befindet sich ein kleiner Schatz – ein 14-teiliger Passionszyklus, den der 1964 in Berlin geborene Künstler Jörg Länger geschaffen hat.
Die Anzahl der „Stationen“ und die Thematik erinnern an einen Kreuzweg. Kreuzwege entstanden aus der Passionsfrömmigkeit des späten Mittelalters und dienten als Ersatz für die Pilgerfahrt nach Jerusalem; sie zielen auf eine meditative Vergegenwärtigung des Passionsweges Jesu ab. Die heute übliche Abfolge beginnt mit der Verurteilung Christi durch Pilatus und endet mit der Grablegung Christi.
Die Limburger Variante von Längers Passionszyklus „ ‚… am d r i t t e n Tage …’ – passio domini nostri jesu christi“ ist 2004 signiert[1]. Der Zyklus teilt mit einem klassischen Kreuzweg die Intention, den Betrachter zu einem Nachvollzug des Leidensweges Christi anzuleiten. Die einzelnen Stationen indessen unterscheiden sich: Der Zyklus beginnt bereits mit der Ölbergszene; der Grablegung folgen noch die Höllenfahrt als 13. und die Auferstehung als 14. Station. Der Bogen von der Ölbergszene bis zur Auferstehung wird also weiter gespannt, andere Szenen des Kreuzweges wie das Fallen Jesu unter das Kreuz oder die Begegnung mit den Frauen bleiben ausgespart.
Als erster Eindruck lässt sich formulieren: Die kleinformatigen, nur 33 x 33 cm großen Papierarbeiten sind trotz ihrer Thematik weder laut noch grell, sondern eher still. Die Farbgebung ist zurückhaltend, die Farbpalette eingeschränkt. Nur wenige Figuren – es handelt sich um Linolschnitte – sind sparsam auf der Bildfläche verteilt. Das, was man sieht, wirkt, wenn kein Titel angegeben wird, zunächst eher verwirrend. Es scheint, dass dieser Passionszyklus sich ganz dem Projekt autonomer Kunst verschrieben und deshalb von der traditionellen Ikonographie verabschiedet hat.
Doch dieser Eindruck trügt und muss bei vertiefter Betrachtung revidiert werden. Denn die vom Künstler aus Linoleum gefertigten „Handlungsträger“ greifen stets auf Vorbilder aus der älteren und jüngeren Kunstgeschichte zurück, lösen sie aus ihrem Kontext und fügen sie in einen neuen Bildzusammenhang ein. Länger selbst spricht von „narrativen Kompositionen“[2]. Drei Stationen seien hier vorgestellt.
Bei der 5. Station verwendet Länger erstmals die Farbe Rot. Im Zentrum des Bildes ist eine menschliche Figur gedruckt, die ihre Arme über den Kopf erhebt. Die roten Tropfen und Striemen, die das Blatt überziehen, konzentrieren sich in der Mitte und rufen den beunruhigenden Eindruck von menschlichem Blut hervor. Die Figurenvorlage hat der Künstler aus Rembrandts „Geißelung“ von 1635 entnommen, alles andere bleibt ausgespart. Die schutzlose, an Füßen und Händen gefesselte Gestalt mit den gestreckten Armen ist also Jesus, der dem Betrachter in all seiner Einsamkeit und Verlassenheit vor Augen gestellt wird. Die Reduktion auf den zentralen Handlungsträger schärft den Blick auf seine Wehrlosigkeit. Das Blut, das weit über die Christusfigur hinausspritzt, evoziert weitere Assoziation: Das Blut Jesu trifft auch mich, den Betrachter; und es ist das Blut der Geißelung, durch das ich auf den gepeinigten Gottessohn blicke…
Für die 10. Station bedient sich Länger einer eindrücklichen Miniatur aus einem gotischen Psalter aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Wieder hat der Künstler alle assistierenden Figuren sowie das Kreuz gestrichen und sich ganz auf den Korpus des Gekreuzigten konzentriert: seinen geschwungenen Leib, den abgewinkelten Kopf mit den herabhängenden Haaren und die weit ausgestreckten Arme mit den abgewinkelten Händen. Diese Gestalt hat der Künstler für seinen Linolschnitt übernommen und durch vertikale Verdopplung eine neue Bildgestalt der Kreuzigung geschaffen. Die untere Figur ist in opakem Schwarz gedruckt. Darüber erscheint die fast identische Figur weniger dunkel. Eine Wischspur verbindet beide miteinander. In der Limburger Variante sind die ausgebreiteten Arme Christi sogar dreifach zu sehen. Dem Betrachter drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob die obere Figur in die untere sackt oder die lichtere Figur sich aus der unteren erhebt. Die weit ausgebreiteten, nach oben gestreckten Arme könnten auf eine Überwindung des Todes verweisen. Dann jedenfalls hätte der Künstler mit seiner Kreuzigungsdarstellung an das Thema romanischer Kruzifixe – der Tod Jesu und seine Überwindung in einer Darstellung – angeknüpft und ihm eine neue Form gegeben.
Die 12. Station, die Grablegung Christi, zeigt – etwas unterhalb der Bildmitte platziert – eine aufrecht stehende, leicht nach links geneigte menschliche Gestalt mit ausgestreckten, nach unten gerichteten Armen; sie ist von einem schwarzen Quadrat umschlossen. Das schwarze Quadrat, das Jesus umschließt, steht für den Tod, der ihn gefangen hält. Im Kontrast dazu steht die aufrechte Haltung des sich von der schwarzen Umgebung abhebenden Christus. In diesem Bild kommen zwei sehr verschiedene kunstgeschichtliche Bezüge ins Spiel: Fra Angelicos „Grablegung Christi“ (1438–1443) und Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ (1915). Geht es dem Maler der Frührenaissance nicht zuletzt um die realistisch gemalte Menschengestalt, so stellt Malewitschs „Ikone der Moderne“ gerade den Gegenstandsbezug von Malerei in Frage. Beiden „Vorbildern“ hat Länger durch Kombination neue Bedeutung verliehen. Denn ist es wirklich ein Leichnam, der in einem quadratischen Grab begraben liegt? Ein lichter Umriss bzw. eine helle Aura umgibt den Leib. Der schwarze Kubus ist nicht undurchdringlich schwarz; seine unscharfen Ränder scheinen zu vibrieren. Sind die ausgestreckten Arme wirklich die eines Toten oder beginnen sie sich schon zu bewegen und die Totengruft zu sprengen?
Diese Betrachtungen bleiben an dieser Station freilich in der Schwebe. Erst im Rückblick der letzten Station wird das positive Vorzeichen gesetzt: Jesus Christus stirbt nicht ins schwarze, nichtende Nichts, sondern wird von Gott auferweckt und lebt aus dem lichten Sein des Vaters.
© Thomas Menges, Limburg 2009
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[1] Jörg Länger: „…am d r i t t e n Tage …“ passio domini nostri jesu christi. Berlin (Stiftung St. Matthäus. Kulturstiftung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) 2006. Siehe auch: www.stiftung-stmattaeus.de
[2] Vgl.: https://laenger.com/texte/ueber-die-narration-der-protagonisten/